Dramatischer Bewegungsmangel bei Jung und Alt
«Wir verhalten uns wie Faultiere, aber wir sind keine», warnt Univ.-Prof. Dr. med. Swen Malte John im Gespräch mit dem ZIV für das Bike Nature Movement. Bewegungsmangel und Fehlernährung führten nach den Erkenntnissen der Weltgesundheitsorganisation WHO zu einer ständig steigenden Krankheitslast und potenziell zu einer finanziellen Überforderung der Sozialversicherungssysteme.
Interview mit Prof. Dr. med. Swen Malte John, Leiter der Abteilung Dermatologie, Umweltmedizin und Gesundheitswissenschaften an der Universität Osnabrück
Interview mit Prof. Dr. med. Swen Malte John, Leiter der Abteilung Dermatologie, Umweltmedizin und Gesundheitswissenschaften an der Universität Osnabrück
Herr Professor Dr. John, die WHO mahnt einen inzwischen dramatischen Bewegungsmangel an – weltweit und auch in Deutschland. Wie sehen Sie die Entwicklung und welche Folgen ergeben sich daraus?
«Sowohl der Bewegungsmangel als auch die Entwicklung zu immer mehr übergewichtigen Menschen hat deutlich zugenommen und die Problematik verschärft sich aktuell weiter. Die Lebenserwartung wird dadurch abgesenkt, wir haben eine ständig steigende Krankheitslast und müssen für die Zukunft mit der finanziellen Überforderung der Sozialversicherungssysteme rechnen.»
Wie groß ist das Problem der fehlenden Bewegung aus Ihrer Sicht aktuell?
«Gerade die Ältesten über 70 Jahre bewegen sich fast gar nicht mehr. Noch dramatischer ist aber die aktuelle Entwicklung bei jungen Menschen. Die Altersgruppe zwischen 11 und 17 Jahren ist die, die sich am allerwenigsten bewegt. 80 Prozent bewegen sich bei den männlichen Jugendlichen zu wenig, 88 Prozent bei den weiblichen. Bei der jungen Generation müssen wir mit schweren gesundheitlichen Folgewirkungen und einer verkürzten Lebensspanne rechnen, wenn nicht aktiv gegengesteuert wird, was die WHO ja auch fordert.»
Aus Ihrer Sicht als Mediziner, welche Wirkung hat Bewegung, bzw. fehlende Bewegung auf uns Menschen?
«Um ein Bild zu benutzen, wir verhalten uns wie Faultiere, aber wir sind keine. Unser Stoffwechsel, unser Herz-Kreislauf-System, unser Gehirn und vieles mehr benötigen Bewegung, um richtig und gut zu funktionieren. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind dabei eindeutig: ca. 80 Prozent aller Krankheiten entstehen durch Bewegungsmangel und Fehlernährung, darunter Herzkreislauf- und Atemwegserkrankungen, Diabetes, Krebs, Demenz, psychische Erkrankungen, Infekte und chronische Entzündungen.»
Umgekehrt betrachtet, was würden wir mit ausreichender Bewegung erreichen?
«Wenn man die Wirkung von Bewegung in Tabletten pressen könnte, dann würde man damit wahrscheinlich Multimilliardär. Untersuchungen zeigen zum Beispiel eine mehr als 70 Prozent verminderte Krebssterblichkeit, ein 88 Prozent vermindertes Demenz-Risiko sowie eine bis zu 20 Jahre längere Lebensdauer.»
Woher kommt der Bewegungsmangel bei jungen Menschen? Vielfach wird ja kritisiert, dass sie lieber vor dem Bildschirm säßen, als sich draußen zu bewegen.
«Tatsächlich beobachten wir in der jungen Generation heute teilweise einen Vitamin-D-Mangel – und das mitten im Sommer! Einige verbringen also so gut wie keine Zeit bei Sonnenlicht im Freien. Wir müssen natürlich aber auch nach den Gründen fragen, denn auf der anderen Seite sehen wir genauso, dass den Jugendlichen Bewegung Spaß macht. Ein großer Trend ist dabei das Radfahren, in der Stadt und vor allem im Wald, mit Mountainbikes, nicht nur bei uns in Deutschland, sondern weltweit. Damit sie das tun können, braucht es aber auch gute Angebote, also eine entsprechende Infrastruktur.»
Warum macht die Bewegung auf dem Fahrrad so viel Sinn?
«Zum einen ist Radfahren sehr gesund. Es stärkt unter anderem das Herz-Kreislauf-System, aktiviert den Gelenkstoffwechsel und schont Gelenke gleichzeitig. Darüber hinaus lässt sich Radfahren ideal in den Alltag integrieren, zum Beispiel für Fahrten zur Ausbildungsstätte oder zur Arbeit. Dadurch werden natürlich auch CO₂ und Energie eingespart, was doppelt Sinn ergibt. In der Freizeit macht Radfahren allen Altersstufen Spaß. Dabei ist der Trend zum Mountainbiken so überdeutlich, dass man nur sagen kann, das muss man nutzen und die Popularität unbedingt weiter fördern.»
Vielfach wird aktuell ja der Naturschutz gegen das Radfahren im Wald abgewogen.
«Man muss klar sagen, dass wir in einer dramatischen Situation sind, was den Bewegungsmangel und die damit verbundene Häufigkeit der Zivilisationskrankheiten in der Bevölkerung angeht. Es ist wichtig einen Kompromiss herzustellen zwischen der Belastung der Umwelt und der Ermöglichung sich draußen zu bewegen. Und mit gutem Willen gelingt das auch.»
Sollte Radfahren und Mountainbiken aus Ihrer Sicht stärker gefördert werden?
«Ganz klar ja. Radfahren im Wald müsste es eigentlich auf Rezept geben. Es ist im Interesse aller, gerade in der Peripherie der Zentren Möglichkeiten zur körperlichen Betätigung auf dem Rad zu schaffen und Menschen nicht in die Illegalität zu drängen oder zu kriminalisieren. Wir sollten allen Menschen, aber vor allem der jungen Generation, ermöglichen sich draußen mit dem Fahrrad zu bewegen, wenn sie das wollen. Das Gute: Sie wollen es und dieser Trend lässt sich nicht umkehren.»
Was empfehlen Sie mit Blick auf Gespräche zwischen den Anspruchsgruppen und Entscheidern zum Radfahren im Wald?
«Zunächst muss man sich über die inzwischen dramatische Problemlage und den positiven Trend zur Bewegung auf dem Rad in der Natur klar werden. Dann sollte man gemeinsam überlegen, wie sich der Trend kanalisieren lässt und wie neue Möglichkeiten geschaffen werden können. Wünschenswert wäre sicher, wenn ein großer Ruck durch die Gesellschaft ginge, aber auch lokale Initiativen vor Ort können eine sehr positive Wirkung entfalten und auch Vorbild für andere sein. Auch die Schulen könnten und sollten Impulse geben, um Jugendliche zum Fahrradfahren und Mountainbiken zu animieren.»
Welche Auswirkungen befürchten Sie, wenn Bewegung nicht aktiv gefördert, sondern eher weiter vermieden wird?
«Die WHO hat sehr klar vor den enormen Auswirkungen eines weiter zunehmenden Bewegungsmangels gewarnt – auch mit Blick auf unüberschaubare ökonomische Probleme. Konkret sehen wir Mediziner zudem nicht nur enorme Krankheitsrisiken und eine Verkürzung der Lebensspanne, sondern auch eine starke Wechselwirkung mit dem ebenfalls gefährlich zunehmenden Übergewicht in der Bevölkerung. Anders, als man erwarten würde, nehmen diejenigen, die sich wenig bewegen, stoffwechselbedingt mehr Nahrung zu sich als diejenigen, die sich vergleichsweise viel bewegen. Diese fatale Wechselwirkung müssen wir dringend unterbrechen.»
Vielen Dank für das Interview.
Univ.-Prof. Dr. med. Swen Malte John ist Leiter der Abteilung Dermatologie, Umweltmedizin und Gesundheitswissenschaften sowie Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Interdisziplinäre Dermatologische Prävention und Rehabilitation an der Universität Osnabrück.
Bildnachweis: Bike Nature Movement (BNM) | Deckbar Photographie
«Sowohl der Bewegungsmangel als auch die Entwicklung zu immer mehr übergewichtigen Menschen hat deutlich zugenommen und die Problematik verschärft sich aktuell weiter. Die Lebenserwartung wird dadurch abgesenkt, wir haben eine ständig steigende Krankheitslast und müssen für die Zukunft mit der finanziellen Überforderung der Sozialversicherungssysteme rechnen.»
Wie groß ist das Problem der fehlenden Bewegung aus Ihrer Sicht aktuell?
«Gerade die Ältesten über 70 Jahre bewegen sich fast gar nicht mehr. Noch dramatischer ist aber die aktuelle Entwicklung bei jungen Menschen. Die Altersgruppe zwischen 11 und 17 Jahren ist die, die sich am allerwenigsten bewegt. 80 Prozent bewegen sich bei den männlichen Jugendlichen zu wenig, 88 Prozent bei den weiblichen. Bei der jungen Generation müssen wir mit schweren gesundheitlichen Folgewirkungen und einer verkürzten Lebensspanne rechnen, wenn nicht aktiv gegengesteuert wird, was die WHO ja auch fordert.»
Aus Ihrer Sicht als Mediziner, welche Wirkung hat Bewegung, bzw. fehlende Bewegung auf uns Menschen?
«Um ein Bild zu benutzen, wir verhalten uns wie Faultiere, aber wir sind keine. Unser Stoffwechsel, unser Herz-Kreislauf-System, unser Gehirn und vieles mehr benötigen Bewegung, um richtig und gut zu funktionieren. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind dabei eindeutig: ca. 80 Prozent aller Krankheiten entstehen durch Bewegungsmangel und Fehlernährung, darunter Herzkreislauf- und Atemwegserkrankungen, Diabetes, Krebs, Demenz, psychische Erkrankungen, Infekte und chronische Entzündungen.»
Umgekehrt betrachtet, was würden wir mit ausreichender Bewegung erreichen?
«Wenn man die Wirkung von Bewegung in Tabletten pressen könnte, dann würde man damit wahrscheinlich Multimilliardär. Untersuchungen zeigen zum Beispiel eine mehr als 70 Prozent verminderte Krebssterblichkeit, ein 88 Prozent vermindertes Demenz-Risiko sowie eine bis zu 20 Jahre längere Lebensdauer.»
Woher kommt der Bewegungsmangel bei jungen Menschen? Vielfach wird ja kritisiert, dass sie lieber vor dem Bildschirm säßen, als sich draußen zu bewegen.
«Tatsächlich beobachten wir in der jungen Generation heute teilweise einen Vitamin-D-Mangel – und das mitten im Sommer! Einige verbringen also so gut wie keine Zeit bei Sonnenlicht im Freien. Wir müssen natürlich aber auch nach den Gründen fragen, denn auf der anderen Seite sehen wir genauso, dass den Jugendlichen Bewegung Spaß macht. Ein großer Trend ist dabei das Radfahren, in der Stadt und vor allem im Wald, mit Mountainbikes, nicht nur bei uns in Deutschland, sondern weltweit. Damit sie das tun können, braucht es aber auch gute Angebote, also eine entsprechende Infrastruktur.»
Warum macht die Bewegung auf dem Fahrrad so viel Sinn?
«Zum einen ist Radfahren sehr gesund. Es stärkt unter anderem das Herz-Kreislauf-System, aktiviert den Gelenkstoffwechsel und schont Gelenke gleichzeitig. Darüber hinaus lässt sich Radfahren ideal in den Alltag integrieren, zum Beispiel für Fahrten zur Ausbildungsstätte oder zur Arbeit. Dadurch werden natürlich auch CO₂ und Energie eingespart, was doppelt Sinn ergibt. In der Freizeit macht Radfahren allen Altersstufen Spaß. Dabei ist der Trend zum Mountainbiken so überdeutlich, dass man nur sagen kann, das muss man nutzen und die Popularität unbedingt weiter fördern.»
Vielfach wird aktuell ja der Naturschutz gegen das Radfahren im Wald abgewogen.
«Man muss klar sagen, dass wir in einer dramatischen Situation sind, was den Bewegungsmangel und die damit verbundene Häufigkeit der Zivilisationskrankheiten in der Bevölkerung angeht. Es ist wichtig einen Kompromiss herzustellen zwischen der Belastung der Umwelt und der Ermöglichung sich draußen zu bewegen. Und mit gutem Willen gelingt das auch.»
Sollte Radfahren und Mountainbiken aus Ihrer Sicht stärker gefördert werden?
«Ganz klar ja. Radfahren im Wald müsste es eigentlich auf Rezept geben. Es ist im Interesse aller, gerade in der Peripherie der Zentren Möglichkeiten zur körperlichen Betätigung auf dem Rad zu schaffen und Menschen nicht in die Illegalität zu drängen oder zu kriminalisieren. Wir sollten allen Menschen, aber vor allem der jungen Generation, ermöglichen sich draußen mit dem Fahrrad zu bewegen, wenn sie das wollen. Das Gute: Sie wollen es und dieser Trend lässt sich nicht umkehren.»
Radfahren im Wald müsste es eigentlich auf Rezept geben.Prof. Swen Malte John | Universität Osnabrück
Was empfehlen Sie mit Blick auf Gespräche zwischen den Anspruchsgruppen und Entscheidern zum Radfahren im Wald?
«Zunächst muss man sich über die inzwischen dramatische Problemlage und den positiven Trend zur Bewegung auf dem Rad in der Natur klar werden. Dann sollte man gemeinsam überlegen, wie sich der Trend kanalisieren lässt und wie neue Möglichkeiten geschaffen werden können. Wünschenswert wäre sicher, wenn ein großer Ruck durch die Gesellschaft ginge, aber auch lokale Initiativen vor Ort können eine sehr positive Wirkung entfalten und auch Vorbild für andere sein. Auch die Schulen könnten und sollten Impulse geben, um Jugendliche zum Fahrradfahren und Mountainbiken zu animieren.»
Welche Auswirkungen befürchten Sie, wenn Bewegung nicht aktiv gefördert, sondern eher weiter vermieden wird?
«Die WHO hat sehr klar vor den enormen Auswirkungen eines weiter zunehmenden Bewegungsmangels gewarnt – auch mit Blick auf unüberschaubare ökonomische Probleme. Konkret sehen wir Mediziner zudem nicht nur enorme Krankheitsrisiken und eine Verkürzung der Lebensspanne, sondern auch eine starke Wechselwirkung mit dem ebenfalls gefährlich zunehmenden Übergewicht in der Bevölkerung. Anders, als man erwarten würde, nehmen diejenigen, die sich wenig bewegen, stoffwechselbedingt mehr Nahrung zu sich als diejenigen, die sich vergleichsweise viel bewegen. Diese fatale Wechselwirkung müssen wir dringend unterbrechen.»
Vielen Dank für das Interview.
Univ.-Prof. Dr. med. Swen Malte John ist Leiter der Abteilung Dermatologie, Umweltmedizin und Gesundheitswissenschaften sowie Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Interdisziplinäre Dermatologische Prävention und Rehabilitation an der Universität Osnabrück.
Bildnachweis: Bike Nature Movement (BNM) | Deckbar Photographie
Experten-Tipp:
WHO-Rechner zu Kostenersparnis durch aktive Mobilität
Die World Health Organization (WHO) hat im Rahmen des Paneuropäischen Programms für Verkehr, Gesundheit und Umwelt (THE PEP) ein Modell zur Berechnung der durch Aktive Mobilität eingesparten Gesundheitskosten entwickelt.
Das sogenannte Health Economic Assessment Tool (HEAT), beziffert die positiven gesundheitlichen Auswirkungen des Zu-Fuß-Gehens, Radfahrens und E-Bike-Fahrens durch mehr Bewegung, weniger Umweltbelastung und damit einhergehend einer geringeren Erkrankungsquote. Das Tool ist ein wichtiges Hilfsmittel für Entscheidungsträger:innen. Entwickelt wurde HEAT bereits im Jahr 2011 von der WHO/Europe und wird seitdem laufend verbessert und aktualisiert.
Hier geht es zum HEAT-Onlinetool (Englisch) »
Die World Health Organization (WHO) hat im Rahmen des Paneuropäischen Programms für Verkehr, Gesundheit und Umwelt (THE PEP) ein Modell zur Berechnung der durch Aktive Mobilität eingesparten Gesundheitskosten entwickelt.
Das sogenannte Health Economic Assessment Tool (HEAT), beziffert die positiven gesundheitlichen Auswirkungen des Zu-Fuß-Gehens, Radfahrens und E-Bike-Fahrens durch mehr Bewegung, weniger Umweltbelastung und damit einhergehend einer geringeren Erkrankungsquote. Das Tool ist ein wichtiges Hilfsmittel für Entscheidungsträger:innen. Entwickelt wurde HEAT bereits im Jahr 2011 von der WHO/Europe und wird seitdem laufend verbessert und aktualisiert.
Hier geht es zum HEAT-Onlinetool (Englisch) »